Nachdem ich meine übliche Neujahrsmüdigkeit überwunden habe: Wir sind zurück! Im Januar überbieten sich die Weinliebhaber gerne damit, wie lange und strikt sie auf Alkohol verzichten können. Ich finde dieses Gebaren immer etwas befremdlich, sollte ich doch das ganze Jahr auf mein Konsumverhalten achten. Statt mich in die endlose Reihe der „ichbrauchdaseigentlichnichtund möchteesabertrotzdemmachen“ (Instagram-)Abstinenzler einzureihen, will ich den Januar lieber für etwas Selbstreflexion nutzen. Ich stelle mir also die Frage, wer bin ich und wenn ja, wie viele.
Externe Schuldzuweisungen sind was Feines. Insgeheim freuen wir uns doch alle, wenn ein anderer die Schuld trägt. Egal, ob Bundespolitik oder Grundschule, hier besteht eine enorme Schnittmenge: „Der andere war‘s!“ bleibt unser immerwährendes Mantra. Dumm nur, wenn keiner da ist, dem wir die Schuld geben können. Für unser Verhalten müssen wir manchmal eben höchstpersönlich geradestehen und doch erscheint es uns manchmal, als wäre ein „anderer“ schuld.
Wer kennt das nicht? Wir wachen mit einem schweren Kopf und müden Gliedern auf. Blöderweise ist aber kein faules Wochenende angesagt. Statt gemütlich im Bett liegen zu bleiben, müssen wir uns ins Büro quälen. Da stellen wir uns gerne die immer gleiche Frage… „Warum zur Hölle bin ich gestern nicht einfach nach Hause gegangen?“ oder „Welcher Kasper war der Meinung, die zweite Flasche sei eine gute Idee?“ In solchen Momenten frage ich mich gerne mal, was ich eigentlich gegen mich selbst habe.
Eine exzellente Frage, muss ich doch feststellen, es existieren gleich drei von meiner Sorte! Da haben wir mein meist unscheinbares Vergangenheits-Ich. Sozusagen der Hüter meiner Erinnerungen. Er passt auf, dass nichts davon wegkommt. Gestaltlich ähnelt er in meiner Vorstellung einem der Dickens’schen Weihnachtsgeister und wabert als transzendierendes Dunstwesen durch meine Vergangenheit. Im Alltag taucht er nur selten auf, ist ja auch nicht sein Bier. Aus der Ferne beobachtend, freut er sich diebisch über das dargebotene Spektakel.
Neben ihm steht mein Gegenwarts-Ich. Wann und wie er sich genau materialisiert, weiß keiner so richtig und würde hier auch zu weit führen. Eigentlich ist er ein feiner Kerl und es gibt meinerseits wenig zu monieren. Allerdings ist er manchmal ein ausgewachsener Idiot und ich könnte ihm glatt den Kopf abreißen. Er ist nämlich genau der Held, der abends diese großartigen Ideen aus dem Hut zaubert. Die Konsequenzen können ihm auch herzlich egal sein, muss er sie doch nicht (er)tragen. Phasenweise lebt er als unbeschwerter Bonvivant nur im Hier und Jetzt. Zugegeben, die letzten Jahre haben ihn deutlich ruhiger und vernünftiger werden lassen. Trotzdem bleibt er ein Schelm, der immer für eine Überraschung gut ist.
Sein Prügelknabe ist dabei stets mein Zukunfts-Ich. Ohne Verteidigungsmöglichkeiten muss er am nächsten Morgen aus dem besagten Bett klettern und sich zur Arbeit schleppen. Wahrscheinlich sollten die beiden nicht aufeinandertreffen. Hier bestünde einiger Diskussionsbedarf und womöglich könnte es zu Handgreiflichkeiten kommen. Wäre dann wohl eine sehr elaborierte Form der Selbstverletzung.
Mein Zukunfts-Ich erträgt die Fehltritte seines zeitlichen Vorgängers glücklicherweise mit einer stoischen Gelassenheit. Sich in sein Schicksal ergebend, trägt ihn ein Gedanke durch die Zeit: „Bald wird er selbst zum Gegenwarts-Ich aufsteigen und seinen großen Auftritt haben.“ Dieser transmorphe Prozess hält das ganze Spiel zusammen. Gleichzeitig ist mein Gegenwarts-Ich aber auch ein raffinierter Charmeur. Er sichert sich längst verlorengeglaubte Sympathiepunkte durch ein paar kleine Leckerlies. Sei es die Wasserflasche am Bett oder die Tiefkühlpizza im Gefrierfach. Im vollen Bewusstsein seines Handelns sorgt er so für kleinere Annehmlichkeiten und zieht sich geschickt aus der Affäre. Wer könnte diesem sympathischen Lebemann auch auf Dauer böse sein, hat er doch nur das Leben genießen wollen.
Und während sich diese beiden „Ichs“ gegenseitig piesacken, schwebt mein Vergangenheits-Ich behände durch Zeit und Raum und freut sich über die schönen neuen Erinnerungen, die es zu behüten gilt. Wie es scheint, fühlt er sich von den anderen Zwei auch gut unterhalten. Feuert er sie doch regelmäßig an und erzählt von seinen Erlebnissen. „Man waren das noch Zeiten! Drei Stunden Schlaf haben für die Vorlesung im Öffentlichen Recht locker gereicht.“ Dabei verschweigt er zwar die verpatzte Klausur im zweiten Semester, aber das liegt ja nun wirklich schon Jahre zurück. Er ist ein fabelhafter Geschichtenerzähler und genau darum geht es, wenn wir manchmal unvernünftig sind: Wir schreiben Geschichten, die wir noch lange erzählen werden. In diesen verspürt auch mein aktuelles Zukunfts-Ich keinen Groll und freut sich schon darauf, seine eigene Geschichte zu schreiben: The best is yet to come!
Manche dieser schönen Erinnerungen formten sich im Rahmen meiner „Mittwochs-Runde“. Seit wir alle im Berufsleben stehen, wurde es zwar sehr viel vernünftiger, dennoch malten wir dieses Gedankenmodell an einem solchen Abend. Dazu gibt es natürlich auch im Januar was zu trinken:
Weingut Jakob Jung (Rheingau) – Weißburgunder & Chardonnay – 2020
Ich habe mich diesmal für einen ganz entspannten Start ins neue Jahr entschieden. Die Nase verspricht jede Menge Frucht. Glücklicherweise nicht aufdringlich oder kitschig. Ich bekomme direkt ein gutes Gewissen, weil ich heute meine tägliche Portion Obst zu mir nehmen werde. Ein bisschen Apfel unterlegt mit exotischen Noten und dazu ein feines Nuss-Topping. Am Gaumen zeigt der Wein dann aber ein paar Muskeln. Mit einer frischen Säure und einem kraftvollen Körper ist das Fitnessprogramm inkl. Cool-Down-Phase auch gleich abgehakt. In Summe ziemlich klar und geradlinig. Ich kann mir den Wein wirklich gut zu leichten Speisen oder auch nur so nebenbei vorstellen. Sicherlich kein „großer Wein“, aber das will er auch gar nicht sein. Ein Gutswein wie er sein soll!