Kaum eine Sache begegnet mir in der Weinwelt häufiger, als der stillose Gebrauch von sti(e)lvollen Weingläsern. Egal ob amerikanische Sitcom, deutsche Weinwerbung oder im Alltag: Menschen können es einfach nicht lassen und packen ihr Weinglas dreist am Kelch. Mir läuft es dabei kalt den Rücken runter.
Ich verstehe es einfach nicht?! Da machen sich die Hersteller von Weingläsern extra die Mühe, dieses langegezogene fragile Glasdingens zwischen Kelch und Fuß einzubasteln und trotzdem wird es beharrlich ignoriert. Hier handelt es sich um eine echte Sti(e)lfrage. Zugegeben, dieser dünne Stiel mag zerbrechlich wirken, aber deshalb ist es noch lange nicht mit Ignoranz zu strafen. Die Erfinder des modernen Weinglases haben sich nämlich was dabei gedacht.
Für gewöhnlich kann ein Weinglas in fünf Abschnitte aufgeteilt werden. Ganz oben finden wir den Glasrand, hier gehören die Lippen hin. Darunter schließt sich der Kelch (bzw. Kuppa) an. Der obere Teil des Kelchs wird auch Kamin genannt. Wie bei der echten Feuerstelle, sollen hier die Aromen nach oben steigen und unsere Sinne erfreuen (Stichwort: Kamineffekt). Viele pfeifen aber auf den Effekt und schenken das Glas lieber bis zum Rand voll. Allerding solltet ihr dann auf das Schwenken verzichten. Gibt andernfalls eine Mordssauerei. Die meisten Weingläser haben eine bauchige Form. Je nach Weinart (und teilweise sogar Rebsorte) werden andere Proportionen bevorzugt. Eingeschenkt wird höchstens bis zur breitesten Stelle des Glases. Durch die große Oberfläche kommt der Wein mit ausreichend Sauerstoff in Kontakt und kann sich entsprechend entfalten.
Jetzt erreichen wir auch schon den springenden Punkt. Irgendein schlauer Mensch kam auf die Idee, den Kelch mit einem Stiel zu versehen und daran einen (Stand)Fuß anzubringen. Sonst würde es eine wackelige Angelegenheit werden. Dieser schlaue Mensch tat dies aber nicht aus reinen Marketinggründen, sondern weil er offensichtlich Geschmack und Ästhetik zu schätzen wusste. Dem Stiel kommen gleich zwei Funktionen zu. Zum einen verhindert er unschöne Fingerabdrücke auf dem Glas. Sieht wirklich nicht appetitlich aus, wenn überall Tapser drauf sind. Lediglich die Spurensicherung dürfte sich darüber freuen. Zum anderen verhindert der Stiel, dass die Hand den Wein erwärmt. Mal abgesehen von wenigen Ausnahmen (Glühwein etc.), empfinden Weine die 36,6 °C Körpertemperatur als ziemliche Tortur. Wer sein Wein „lässig“ am Kelch anpackt, erwärmt sehr schnell das dünne Glas und damit auch den Wein. Sämtliche Mühen, den Wein richtig temperiert ins Glas zu bekommen, sind damit für die Katz.
Ich finde es sieht auch nicht cool aus oder wirkt besonders lässig. Ihr zeigt eurem Gegenüber lediglich, dass ihr wirklich keine Ahnung von Wein habt. Ausnahmsweise schützt hier aber Unwissenheit vor Strafe. Zu oft wird es in (amerikanischen) Filmen oder Werbungen falsch vorgemacht. Da kann man schon mal durcheinanderkommen. Sollte ein Wein zu kühl serviert werden, kann er selbstverständlich angewärmt werden. Dazu umschließen wir aber den gesamten Kelch mit unseren Handflächen.
Einzig und allein geneigten Cognactrinkern sei es gestattet, ihren Schwenker am Kelch zu packen. Hier ist die Handwärme gerade erwünscht. Und wir wissen ja alle: Kein Jäckchen wärmt so, wie das Cognäcchen.
Wer jetzt auf die Idee kommt, das Glas am Fuß zu greifen, dem ist nicht mehr zu helfen. Es sieht nicht nur albern aus, sondern ist auch unpraktisch. Der Schwerpunkt des Glases liegt sehr hoch über der Hand, weshalb es nur schwer zu balancieren ist. Mich erinnert es immer an einen Zirkusartisten, der einen Teller auf seinem Stock dreht. Außerdem müsst ihr beim Abstellen zwangsläufig umgreifen. Trotzdem sieht man diese Haltung oft bei Kellermeistern. Wo das herrührt, kann ich euch nicht so genau sagen. Vermutlich um die Farbe besser beurteilen zu können. Wer aber kein Kellermeister oder Zirkusartist ist, der sollte es lassen.
Ein Weinglas wird am Stiel gefasst. Punkt um! Nix Sti(e)lfrage! Allerdings sollte das Glas auch nicht wie ein Hammer oder eine Axt angepackt werden. Das Glas hat niemandem etwas getan. Sollte euch der Wein nicht schmecken, ist das Glas höchstwahrscheinlich unschuldig. Erschießt nicht den Boten schlechter Nachrichten. Zwei bis drei Fingerchen dürften ausreichen, um dem Glas die notwendige Stabilität zu geben. Welches Weinglas ihr dazu verwendet, ist wiederum ein ganz anderes Thema. Ich werde mich wohl zeitnah an einem Universalglas versuchen und ausführlich davon berichten.
Nach der ganzen Aufregung gibt es aber erstmal was zu trinken. Und diesmal mit Style:
Weingut Karl Haidle (Württemberg) – Ritzling 2020
Hier sprayt der Winzer noch selber. Aber auch abseits der Farbdose beherrscht er sein Handwerk. In der Nase grüner Apfel und ein bisschen Zitrus. Dazu deutliche florale Noten. Erinnert mich ein bisschen an eine schöne Sommerwiese. Im Geschmack zurückhaltend fruchtig. Dafür jede Menge Kräuter die vertragen sich herrlich mit der angenehmen Säure und der frischen Mineralität. Im Abgang kommt dann etwas leicht Salziges durch. Obwohl der Wein eher als Alltagswein konzipiert ist, wirkt er keineswegs banal. Mein Schwabenherz jubiliert: Oifach legger!
Ein Kommentar zu „Stil ist nicht das Ende vom Besen…“